Opfergeschichten

Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet den Menschen um. Wer das was gut war vergisst, wird böse. Wer das was schlimm war vergisst, wird dumm.  
~ Erich Kästner


Elisabeth von E. (1907-1940)

Elisabeth von E. arbeitete als Dienstmädchen. Im Juni 1934 wurde sie im Alter von 27 Jahren von der Polizei als „gemeingefährlich“ in die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster gebracht, nachdem sie ihre Familie, ihre Nachbarn bedrohte und Suizid begehen wollte. Die Ärzte diagnostizierten bei ihr Schizophrenie, wodurch sie unter das Zwangssterilisationsgesetz fiel. Im Dezember 1934 leitete die Anstalt das Sterilisationsverfahren ein, da eine Entlassung in Aussicht stand. Im April 1935 wurde die Operation im Krankenhaus Landau durchgeführt. Danach verschlechterte sich ihr Zustand rapide; Elisabeth äußerte lautstark ihren Unmut über das, was ihr angetan worden war. Sie kehrte nie mehr nach Hause zurück und wurde am 22. November 1940 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein mit Gas ermordet.

Otto W. (1892-1945)

Der Angestellte Otto W. lässt sich 1927 mehrmals wegen nervöser Erschöpfung krankschreiben. Deshalb begutachtet 1930 der Klingenmünsterer Psychiater Heinrich Schmidt ihn und diagnostiziert dabei eine Schizophrenie. Nach einem folgenden Selbstmordversuch wird er in die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster gebracht.
Hin und wieder schaut seine Frau bei ihm vorbei. Ab dem Jahr 1934 ist es Otto W. nicht mehr erlaubt, mit seiner Familie spazieren zu gehen oder Freunde zu besuchen. Seine freie Bewegung ist erst wieder erlaubt, wenn er zwangssterilisiert wird und somit keine »Fortpflanzungsgefahr« mehr besteht.

Im März 1934 zeigte Direktor Josef Klüber Otto W. zur Sterilisation an. Er widersetzte sich jedoch dieser Entscheidung. Mit einem Anwalt setz er sich zur Wehr und wendet sich mit einem Brief an die Gauleitung der NSDAP in Neustadt.
Darin steht: er würde es sogar vorziehen, in ein „Arbeitsdienst- und Konzentrationslager“ eingewiesen zu werden, statt die Zwangssterilisation über sich ergehen zu lassen. Otto W. betonte, dass seine Krankheit ausgeheilt und seine Ehe kinderlos sei, womit seiner Ansicht nach kein Grund für die „völlig abwegige und zweckwidrige“ Entscheidung vorliege.Doch seine Ehefrau stellte sich gegen ihn. In einem Brief an den Anstaltsdirektor erklärte sie, andere Kranke hätten die Sterilisierung auch über sich ergehen lassen, „weil sie verantwortungsbewußt am neuen Deutschland mit aufbauen wollen.“ Der Protest blieb ohne Erfolg: Das „Erbgesundheitsobergericht“ in Zweibrücken wies seine Beschwerden ab. Schließlich wurde Otto W. am 29. August 1934 unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln ins Krankenhaus Landau gebracht und dort zwangssterilisiert.

Rosa D. (1889 - ?)

Rosa D. ist Hausiererin (Straßenverkäuferin - meist Gebrauchsgegenstände) und wird 1932 unter Zwang in die Heil- & Pflegeanstalt in Klingenmünster gebracht. Von einem Bezirksarzt wird sie eingewiesen, jener stuft sie als »geistig minderwertig« und »moralisch vollkommen verdorben« ein. Des Weiteren soll Sie durch »obszönes« Verhalten in der Öffentlichkeit aufgefallen sein. Im März 1934 stellt sie dann selbst einen Antrag auf Sterilisation, um entlassen zu werden.
Nach ihrer Operation im Krankenhaus Ludwigshafen probiert sie zu flüchten, wird in Neustadt jedoch wieder gefasst und nach Klingenmünster gebracht.
Auch von dort flüchtet sie kurze Zeit später, wird aber nachträglich entlassen. Etwas später 1935 wird Rosa D. wegen Betteln verhaftet. Darüber hinaus wird erneut ein Gutachten über ihre Zurechnungsfähigkeit aus Klingenmünster angefordert. Gutachter Heinrich Schmidt schreibt darin sie sei »nicht zu den Geisteskranken im engeren Sinn« zuzuordnen, sondern sei eine »haltlose, leicht erregbare Psychopathin«.

Ferdinand K. (1901-1944)

Ferdinand K. verlässt mit 14 Jahren die zweiten Schulklasse. Danach arbeitet er vor allem bei seinen Eltern zuhause, später wird er dann Hilfsarbeiter. Lesen und rechnen kann er kaum, nur seinen Namen kann er schreiben. Im Oktober 1940 wird Ferdinand in die Anstalt Frankenthal geschickt für eine Untersuchung. Dorthin kommt er aufgrund einer Sexualstraftat.
Das Urteil der Frankenthaler Psychiater besagt, er leide an einem »mittelschweren Grad von Schwachsinn« und sei dadurch unzurechnungsfähig sowie »gemeingefährlich«. Daher wird seine Zwangseinweisung angeordnet.

In die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster aufgenommen wird er im März 1942. Sein Verhalten vor Ort bleibt unauffällig und er hilft bei Hausarbeiten.
Im Juni 1944 wird Ferdinand K. nach Mauthausen verlegt. Am 2. September 1944 wird er dann nach Hartheim gebracht und sofort ermordet.

Kurz darauf fragt seine Mutter in einem Brief an den Direktor Klingenmünsterer Anstalt, warum ihr Sohn in ein Konzentrationslager gekommen sei. Daraufhin bekommt sie die Antwort: »Die Verlegung Ihres Sohnes in das Lager ist seinerzeit auf Anordnung des Ministeriums erfolgt. Etwas besonderes hatte sich Ihr Sohn nicht zuschulden kommen lassen.«

Elisabeth von E.

Anstaltsfoto (© Landesarchiv Speyer)

Otto W.

Anstaltsfoto (© Landesarchiv Speyer)

Rosa D.

Anstaltsfoto © Landesarchiv Speyer

Ferdinand K.

Anstaltsfoto (© Landesarchiv Speyer)

Warum wir über Opfer sprechen müssen

Die Auseinandersetzung mit den Geschichten der Opfer ist ein zentraler Teil der Erinnerungskultur. Sie gibt denjenigen eine Stimme, die entrechtet, verfolgt oder ermordet wurden – und erinnert uns daran, was geschehen kann, wenn Menschlichkeit verloren geht.

Opfergeschichten sind keine Zahlen oder Randnotizen der Geschichte. Sie sind persönliche Schicksale, die Respekt, Empathie und Aufmerksamkeit verdienen. Nur wenn wir bereit sind, ihnen zuzuhören, können wir Verantwortung übernehmen, aus der Vergangenheit lernen und verhindern, dass sich Unrecht wiederholt.

Nicht vergessen - besondere Biografien

Klara Nowak

Als junge Frau geriet sie ins Visier der NS-„Erbgesundheitsgerichte“ und wurde gegen ihren Willen sterilisiert – ein Unrecht, das sie ihr Leben lang prägte.
Trotz aller Verluste kämpfte sie nach dem Krieg für die Rechte der Betroffenen und wurde zu einer wichtigen Stimme für die Opfer der NS-„Rassenhygiene“.

Bild: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/543964c06b63730fc45060a2573bf018156c3070/Begleit-Heft%20erfasst%20verfolgt%20vernichtet.pdf

Margret Hamm

Sie kämpfte jahrzehntelang für Anerkennung, Gerechtigkeit und gegen das Vergessen – mit Mut, Beharrlichkeit und klarem moralischem Kompass. Und all dies obwohl sie nach Kriegsende geboren wurde und weniger Kontaktpunkte zum Thema hatte. 

Bild: https://www.stadtkultur-hh.de/2024/03/gespraech-verraten-verletzt-und-verdraengt-in-der-woche-des-gedenkens-im-goldbekhaus/

Auswahl der Fallgeschichten

Die Geschichten von Klara Nowak und Magret Hamm wurden ausgewählt, um exemplarisch verschiedene Aspekte der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus darzustellen.

Allgemein lässt sich sagen, dass es sehr schwierig ist Biografien zu diesem Thema zu finden, da vieles noch unter Schutz steht und nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Trotzdem habe sich einzelne Person entschieden mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit zu treten.

Klara Nowaks Geschichte ist geprägt von rassistischer Verfolgung und systematischer Unterdrückung von ganzen Bevölkerungsschichten.

Magret Hamm schildert die langfristigen sozialen und psychischen Folgen für die Betroffenen und die fehlende Anerkennung des erlittenen Unrechts nach 1945. Es zeigt, dass wir nicht Machtlos sind und alle handeln können.

Beide Beispiele verdeutlichen, wie staatliche Gewalt individuelle Lebenswege tiefgreifend und dauerhaft beeinflusst hat.